Eine Geschichte, die mir besonders am Herzen lag: Ich besuchte am 04.09.2009 zwei sehr ungewöhnliche Damen, beide zusammen rund 144 Jahre alt…
„ Sie möchten mich besuchen? Einen Moment, ich muss da zuerst meine Agenda holen!“
Kein Zweifel, die Dame am anderen Ende des Telefons ist zwar im besten Pensionsalter, aber mit einer Rentnerin, wie man sich das gemeinhin vorstellt, hat diese aussergewöhnliche Frau wenig zu tun. Die frische und energetische Stimme lässt einem sowieso völlig im Unklaren, welche reichen Lebensjahre die Gesprächspartnerin bereits erlebt hat. Und auch bei der Begrüssung auf der Treppe zu ihrem Haus, wo mich die Gastgeberin Frau Keller empfängt, mag man kaum glauben, dass diese ihren Beruf nicht erst vor ein paar Jahren mit dem (Un)ruhestand eingetauscht hat.
Und so nimmt das Interview im gemütlichen Wohnzimmer ihres Hauses in der Nähe einer Aargauer Kleinstadt einen etwas anderen Verlauf, als ursprünglich geplant. Genau genommen sind es eigentlich gleich zwei Damen, welchen der Besuch gilt. Doch zuerst gibt es einen frische Filterkaffee und ein grosses Stück bester Kirschtorte, einige Fotos liegen bereit und auch die aktuelle Tageszeitung.
Die Fotos und Computerausdrucke zeigen viel Blech, Schweissnähte und Teile eines Autos, auf anderen ist immer wieder derselbe Wagen zu sehen, egal ob ein älteres Schwarzweissbild oder ein aktuelles Farbfoto. Das Auto ist eine „DS“ von Citroën, Jahrgang 1956. Nein, Frau Keller ist kein Oldtimer-Fan. Im Gegenteil, dass sie dieses Auto fährt, hat vor allem praktische Gründe. Denn sie hat den Wagen damals neu gekauft und nie ein anderes Auto besessen!
Am 7. September 1956 absolvierte Frau Keller in einem Anlauf die Fahrprüfung – streng sei der Fahrlehrer gewesen. Der Grund dazu war mehr als ungewöhnlich, genauso wie die Tatsache, dass damals überhaupt eine alleinstehende Frau Autofahren wollte:
Nach dem Tod des Vaters sei es ihr und ihrer Mutter zu einsam geworden im Haus, keiner wollte mehr zu Besuch kommen. Früher seien oft Gäste da gewesen, man habe politisiert, auch sie selber – obwohl noch ohne Stimm- und Wahlrecht, aber höchst interessiert – habe oft mit diskutiert. Doch als sie spüren mussten dass man „ohne Mann niemand mehr ist“, habe sie den Beschluss gefasst, wenn niemand kommen wolle, müsse „Frau“ halt selber mobil werden. Gesagt-getan, mit dem Fahrausweis in der Tasche und einem Budget für den Autokauf habe sie verschiedene Wagen in Betracht gezogen: Ford, Vauxhall oder Hillman…“Aussen viereckige Kisten und innen alles nur Blech!“ meint dazu Frau Keller noch heute. Und dann habe man ja stets neue Modelle herausgebracht, so dass ein Neuwagen innert kurzer Zeit ein altmodisches Auto geworden wäre, besonders bei Ford oder Opel, letzterer, wie der Fahrschulwagen, benötigte gar noch Zwischengas beim Schalten. Das sei bei Borgward schon anders gewesen, schöne Wagen, ein dunkelblauer hätte es sein können. Doch die Arroganz des Zürcher Generalvertreters, ihm wäre wohl lieber gewesen, mit einem Mann ein Geschäft machen zu können, liessen „Fräulein Keller“ schliesslich etwas Zeit bis eine andere, mehr als ungewöhnliche Dame in der Schweiz ihren Einstand geben konnte: Die im Oktober 1955 am Salon von Paris vorgestellte, ultra-avantgardistische „Déesse“ von Citroën. Erst rund ein Jahr nach ihrer Präsentation waren die ersten Wagen auf dem Markt erschienen und sorgten noch im Herbst 1956, als die ersten Exemplare in den Ausstellungsräumen der hiesigen Vertreter erschienen, für grosses Aufsehen. Natürlich auch bei Frau Keller. Zwar war das Auto teuer in der Anschaffung, aber „wenn der Wagen so lange gebaut würde wie der Vorgänger (der Traction Avant, der von 1934 – 1957 produziert wurde), wäre das eine profitable Sache, weil das Auto dann länger modern sein würde“.
Kurzum, bei Schlotterbeck in Basel, nach einer freundlichen Beratung, wurde der Kauf getätigt, bis sich herausstellte, dass das „Fräulein“ im Kanton Aargau wohnte. Streng nach Gebieten aufgeteilt, musste schliesslich die DS in der Farbe AC 134 „Champagne“ – die MFK meint noch heute dazu lapidar, das sei „Grün“- beim örtlichen Händler gekauft werden, mit 3 Monaten Lieferfrist. Rabatt?-Fehlanzeige! „Einen kalten Teller haben wir spendiert erhalten“, meint dazu die Gastgeberin.
Da stand sie also, die berühmte Göttin aus Frankreich, gefahren von einer „jungen Frau“ und mit einer dreistelligen Nummer versehen. Kein Wunder sorgte Frau Keller für Aufsehen. Doch das liegt wohl in ihrer Natur. Nach einer Karriere beim Kanton wechselte die selbstbewusste Frau zur Migros Aargau-Solothurn und wurde hier Direktionssekretärin. Nicht nur, dass sie als einzige Frau motorisiert war, sie fuhr auch den grössten Wagen. War der Chef auswärts, parkierte die DS auf dessen Direktionsparkplatz…
Als am 7. Februar 1971 das Stimm- und Wahlrecht für die Frauen eingeführt worden war, liess sich Frau Keller für den Gemeinderat aufstellen und nahm ab Januar 1974, als erste Frau im Kanton Aargau in einem solchen Gremium, – als Parteilose mit bürgerlicher Gesinnung – darin Einsitz, dies bis 1994. „Ach ja, und dann habe ich nach der Pensionierung die kantonale Wirteprüfung gemacht, man lernt ja nie aus“, meint Keller gleich im Anschluss, wohlwissend, dass die Frage, was nach ihrer politischen Laufbahn an der Reihe war, sich geradezu aufdrängt – bei soviel Tatendrang.
Noch heute ist Frau Keller regelmässig per Auto unterwegs, ein Umstand, für den sie in jüngerer Zeit kämpfen musste. Manch einer wähnte, angesichts des Alters von Fahrerin und Auto, eine potentielle Gefahr und die beherzte Dame musste, zwecks Kontrolle ihre Fahrkunst, diese dem Prüfungsexperten unter Beweis stellen, mit Bravour, wie dieser konstatierte. „Wie ein Habicht“ sähe sie noch heute, nach einer Augenoperation fährt Frau Keller nach wie vor ohne Brille. Und überhaupt, das Autofahren wolle sie, solange sie dazu noch geistig und körperlich in der Lage sei, nicht aufgeben, genau wie ihr Auto, das ihr seit 54 Jahren treue Dienste leistet. Mögen sie noch lange gemeinsam unterwegs sein. Bonne route, Mesdames!