Erschienen in InforMotion, dem Magazin aus dem Verkehrshaus. Ausgabe 1/2010
Bahnfahren lässt einem nicht nur entspannt ankommen, es gewährt auch Einblicke, die nur dank dieser Art der Fortbewegung möglich sind. Besonders interessant wird es dort, wo die Züge sich den Hauptbahnhöfen nähern. Auf der Rückseite der Stadt, entlang den Geleisen, bietet eine Eisenbahnfahrt einen fast voyeuristischen Blick in die kleinen Welten, Biotope und Refugien, die in diesen bis ins Zentrum reichenden Randzonen in bunter Vielfalt wuchern und gedeihen. Schnell wie in einem Musikvideo wechseln dabei die Szenen und Bilder, deren Kadenz sich erst mit der Einfahrt in den Bahnhof beruhigt. Grund genug, diesen Film einmal etwas früher zu stoppen und eines dieser Kleinode näher zu betrachten. Wir machen Halt auf der SBB Strecke Immensee – Luzern (Fahrplanfeld 600), unmittelbar vor der Einfahrt in den 2107 Meter langen Musegg-Stadttunnel.
Eingeklemmt zwischen Geleise und Strasse steht auf der Schienenseite das Streckenwärterhaus Nummer 21b – oder die Haldenstrasse Nummer 69.
Inmitten eines der besten Wohnquartiere der Stadt, an privilegierter Lage, einen Katzensprung vom Seen entfernt und wenige Fahrminuten vom Zentrum, ist dieses so gar nicht in dieses Umfeld passende, bescheidene Gebäude das Zuhause einer jungen Familie.
Versteckt hinter der grünen Blätterwand führt ein Schmiedeeisernes Türchen zum Eingang in eine kleine Oase, umbrandet vom Verkehr auf Schiene und Strasse. Für Mediterranes Flair sorgt eine Palme vor der Arkade zum Eingang. Das hier gelebt wird bezeugt ein reiches Sammelsurium an Objekten wie Kinderwagen, Gartenmobiliar, liebevoll bepflanzte Steintöpfe und die kunstvoll bemalte Decke der Arkade.
Willkommen bei der Familie Moab Koch und Christian Albrecht mit ihrer Tochter Dewa!
Gleich beim Eintritt in das Haus fällt der Blick in eine Ecke mit Lavabo, raffiniert eingefügt und mit kleinen Keramikplättchen verkleidet: „Selber gemacht“ meint Christian Albrecht, „aber eine Türe haben wir noch nicht für’s Badezimmer, die alte ist in ihre Einzelteile zerfallen, Gäste mag dies etwas irritieren aber uns stört es nicht sonderlich“. Unkompliziert und direkt, der Empfang ist genauso freundlich wie die Atmosphäre in dem 1897/98 erbauten Backstein-Häuschen. Wer aufgrund des bescheidenen Äusseren drangvolle Enge im Innern erwartet hat, täuscht sich. Durch das teilweise ausbrechen der Gefache – die Zwischenräume der als Fachwerk gebauten inneren Wände – entstanden luftige Räume.
Im Salon teilen sich eine lauschige Sitzgruppe, die Krabbelecke von Tochter Dewa und ein mächtiger Flügel den Platz, dahinter führt ein Durchgang ins Esszimmer, dessen Decke mit Stuckaturen verziert sind – nachträglich.
Der Verkäufer der SBB habe mächtig gestaunt, als sie das Kaufobjekt unbesehen gekauft hätten, sagt Christian Albrecht. Eher per Zufall war er an einem Sonntag-Morgen beim Surfen im Internet, durch eine bekannte Immobilienseite, auf das Angebot gestossen. Nur von aussen hätten sie sich kurz über Lage und Zustand des Hauses informiert. „Wir waren vom Innern positiv überrascht“, meint Albrecht. Natürlich seien die Räume verwohnt und erneuerungsbedürftig gewesen, aber die Substanz war in Ordnung. Mit viel Eigenarbeit haben die neuen Besitzer alle Sanitären Einrichtungen, die Küche, die elektrische Installation und gar eine Gas-gefeuerte Zentralheizung anstelle der einzelnen Öfen eingebaut. Nur die Anschlüsse an das Netz erfolgten durch Profis.
Heute geniesst die Familie ihre 5 Zimmer, im Erdgeschoss befinden sich Küche, Bad/WC, der dominierende Salon und ein Esszimmer, darüber liegen ein kleines Büro, das Schlafzimmer der Eltern und das Kinderzimmer der Tochter. Auf der Galerie, mit Blick auf die Geleise, bleibt sogar etwas Platz für eine weitere Sitzgruppe.
„Die Eisenbahn nehmen wir kaum wahr, die Linie ist wenig befahren, Güterzüge verkehren fast keine und das Gros der Bewegungen bilden S-Bahn Kompositionen die sehr leise rollen. Wenn uns Lärm stört hier, dann ist dies von der Strasse auf der anderen Seite des Hauses!“, sagt Moab Koch.
In der Tat, die Strecke von Luzern bis Immensee dient vorwiegend dem Lokalverkehr. Nur der Voralpenexpress der Südostbahn donnert, wie sich das für einen Zug gehört, hör- und spürbar unmittelbar am Haus vorbei.
Das Bahnwärterhäuschen 21b wurde mit der am 1. Juni 1897 eröffneten Anschlusslinie von Luzern nach Immensee durch die damaligen Gotthardbahn GB erbaut. 1909 ging mit der Übernahme der GB durch die SBB auch das kleine Gebäude an die Bundesbahn über. Seit die SBB privatwirtschaftlich operiert, werden über „SBB Immobilien“ nicht mehr für den Bahnbetrieb relevante Immobilien und Grundstücke veräussert. Zunächst vermietet, fand Haus Nummer 21b im Jahre 2005 seine heutigen Besitzer. Der Kauf erfolgte zu einem Preis, der unter Berücksichtigung der zentralen Lage des Objektes als ausgesprochen günstig bezeichnet werden darf.
Natürlich gibt es einige Eigenarten, die bedingt durch die ehemalige Funktion des Hauses auffallen. Zuerst ist es natürlich die Nähe zur Bahntrasse, fast könnte man meinen, die Züge streiften den Dachüberhang. Und im Garten prangt unübersehbar ein Schild, das von den Gefahren des Berührens der Fahrleitungen warnt. Mitten in demselben Garten steht auch wenig vorteilhaft ein rostiger Gittermast, der nicht der Bahn, sondern den Verkehrsbetrieben Luzerns für die Fahrleitung des Trolleybus’ dient. Es scheint eine langjährige, innige Beziehung zu sein, welche das Haus „Haldenstrasse 69“ mit den VBL pflegt. Eine Manipulation des Hausherren an einem Sicherungskasten von zunächst unbekannter Funktion im seinem eigenen Keller provozierte einen gehässigen Anruf eines VBL Mitarbeiters, der Billetautomat der Bus-Haltestelle „Dietschiberg“ funktioniere nicht mehr…
Übrigens, vom 8. Dezember 1899 bis zum Ende des Jahres 1929 führte die Tramlinie 2 genau bis vor das Haus. Sie verband die benachbarte Talstation der Dietschibergbahn mit dem Bahnhof Luzern.
Doch zurück zu den Bewohnern des Hauses 21b: Sowohl Moab Koch wie Christian Albrecht sind Musiker, der Flügel im Salon rührt nicht von ungefähr. Dank der Lage ihres Häuschens können sie fast jederzeit üben, ohne die Nachbarn zu stören. Das Dreieck-förmige Grundstück bietet Platz für Auto, Garten und einen kleinen Holzschuppen. Darin finden sich tatsächlich noch heute die Werkzeuge des Streckenwärters: Schraubschlüssel, Pickel und sogar seine Laterne, etwas oxydiert zwar, aber immer noch aufgehängt am dafür vorgesehenen Hacken.
„Mit 25 habe ich mir eine Wunschliste erstellt, darunter war auch ein Haus am See“, sagt Moab Koch. Mit dem Haus 21b ist der Wunsch quasi in Erfüllung gegangen. Nur wenige Schritte über die Haldenstrasse führen zum Vierwaldstättersee. Sie könnten hier alt werden, meinen die stolzen Hausbesitzer. Natürlich ist bei weiterem Familienzuwachs der Platz beschränkt. Aber alles, was es zum Leben braucht, kann das Haus an der Haldenstrasse 69 bieten.