Das Wunder von Bern
Wir schreiben das Olympiajahr 1936. Die Weltwirtschaftskrise hat eben ihre schlimmsten Momente hinter sich gelassen. Der Franken wird abgewertet um der Schweizer Wirtschaft bessere Chancen in den Exportmärkten zu gewähren und ganz sachte scheint es wieder etwas aufwärts zu gehen.
Wie jeden Frühling seit 1927, als er „international“ wurde, wird die Autosaison 1936 mit dem Salon International de l’Automobile in Genf eingeläutet.
Auch Vater und Sohn Marthaler, Milchhändler aus Bern-Bümpliz, reisen nach Genf. Aber nicht nur um zu sehen was es denn gäbe, sondern mit einer konkreten Kaufabsicht. Marthaler Junior will sich ein Automobil beschaffen. Als Milchhändler gehört er zum aufstrebenden Mittelstand der nun, wie vielerorts in Westeuropa, dank den zahlreichen neu erschienenen Serienautos, sich einen fahrbaren Untersatz leisten will und nun eben auch kann.
Mit Vaters weisem Rat.
Ein Cabriolet soll’s sein, und etwas „rechtes“ dazu. Marthalers wollen sich den neuen Mercedes 170V anschauen, der im Vorjahr herausgekommen war. Papa Marthaler weiss ganz genau, was sich für einen Mann, der so in der Öffentlichkeit steht wie der lokale Milchhändler, gehört. So missfällt dem alten Herrn die gelbe Farbe des ausgestellten zweifenstrigen Cabriolets der Stuttgarter. Was sollen nur die Leute denken, wenn der Junior in einem Auto daherkommt und dann noch mit einer solch auffälligen Farbe? Der Entscheid gegen den 170er fällt auch dem Filius umso einfacher, als er feststellt, dass die Rückbänkler im zweifenstrigen Cabriolet bei hochgeschlagenem Verdeck kaum etwas sehen können. Also weiter: Der Aufschwung in Deutschland ist unverkennbar, zahlreiche Hersteller sind mit hochmodernen Konstruktionen am Salon vertreten. Die Adlerwerke aus Frankfurt am Main präsentieren unter anderem ihr Modell Trumpf, einem Mittelklassewagen mit Frontantrieb und Einzelradaufhängung rundum. Highlight der Modellreihe auf dem Salonstand ist ein Vierfenster-Cabriolet mit seltener Autenrieth Carrosserie, dezent lackiert in einem hellen Grau für den Aufbau und etwas dunklerem Ton für die Kotflügel. Das ist der gesuchte Wagen! Noch auf dem Salon wird der Adler Trumpf von Vater und Sohn Marthaler gekauft und das Ganze per Vertrag besiegelt. Nach Salon-Ende soll das Auto in Zürich verzollt und noch im März nach Bern ausgeliefert werden.
Ein technischer Meilenstein
Im Vertrag erwähnt ist nebst einer Reserveradabdeckung auch eine spezielle Fettpresse, ein wichtiges Feature für die akribische Wartung der heiklen Antriebswellen des frontgetriebenen Wagens. Die revolutionäre Konstruktion des 1934 erstmals gezeigten Traction Avant von Citroen lässt heute oft vergessen, dass der Adler Trumpf zwei Jahre früher auf dem Markt war als der legendäre Franzose. Der erste Mittelklassewagen mit Frontantrieb war eine Pionierleistung des berühmten Ingenieurs Hans Gustav Röhr. Röhr war, nachdem er mit seiner eigenen Firma gescheitert war, als Entwickler zu Adler gegangen.
Familie Marthaler kommt also fortan in den Genuss, im eigenen Auto Ausflüge zu machen. Dies ist ein Privileg, das 1936 noch viele Neider und noch mehr Missgunst provoziert. So erscheint es dem Milchhändler nicht opportun, am Sonntag einfach Kind und Kegel einzupacken und loszufahren, was könnten da die Nachbarn denken? Nein, die Familie hat etwas früher schon das Haus zu verlassen und zu Fuss ein Stück vorzugehen. Papa kleidet sich in seinen Geschäftsanzug um mit der Aktenmappe bewaffnet einen Geschäftstermin vorzutäuschen. Er würde aber die wartende Familie etwas später am Berner Stadtrand aufladen.
Die Kinder setzen sich direkt ins zurückgeklappte, dick gefütterte Verdeck und lassen sich hier oben ungestört den Fahrtwind durch die Haare streichen. Für die Erwachsenen bleibt genügend Platz auf den mit einem starken Wollstoff bezogenen Sitzen und der dick mit Rosshaar gepolsterten Rückbank. Gemütlich geht es voran. Der 1700erter Seitenventiler zeiht aus tiefsten Drehzahlen hoch und die 4 Gänge lassen sich mit einem präzisen „Klacks“ über eine Lenkradschaltung mit normalem Schema einlegen. Der tiefe Schwerpunkt erlaubt es, mit Gas durch die Kurven zu fahren und Marthaler geniesst es sichtlich, seinen wunderbaren, 38PS starken Wagen zu bewegen. Diese Motorleistung reicht auch für eine gemütliche Passfahrt. Allerdings muss man dazu früh aufstehen um die heisse Mittagssonne beim Aufstieg zu vermeiden. Die Thermosyphonkühlung ohne Wasserpumpe neigt sonst zum Kochen.
Die grossen, hinten angeschlagenen Türen erlauben ein schwungvoll-elegantes Ein- und Aussteigen. Der stolze Besitzer hält sich hierzu am Pfosten der Frontscheibe fest und schwingt sich, mit dem rechten Bein voran, in den Fahrersitz. Dann genügt ein Griff auf die Türoberkante und mit einer ausholenden Bewegung fällt die schwere Pforte präzise ins Schloss. Sich der teuren Anschaffung eines Autos bewusst, lässt Marthaler seinem Wagen alle nötige Pflege zukommen um dessen Wert möglichst zu erhalten. Der schnell ermattende Nitrolack wird fast wöchentlich auf Vordermann gebracht, denn schliesslich ist das Auto eine Visitenkarte für den Besitzer. Und wenn dieser mit einem Produkt handelt, dessen Reinheit und Hygiene an oberster Stelle stehen, dann ist es umso wichtiger auch selbst ordentlich und sauber daherzukommen.
Im Herbst 1939 nehmen die schönen Ausfahrten ein jähes Ende – im „grossen Kanton“ drüben wird ab September „zurückgeschossen“. Es ist Mobilmachung. Die Schweiz stellt sich auf Krieg ein.
Wer rastet, der rostet
Zahlreiche Autos gehen als Requisitionsfahrzeuge an die Armee. Die Mehrheit der Wagen aber wird garagiert und stillgelegt, es gibt für sie keinen Sprit. Als Milchhändler hat Herr Marthaler einen Auftrag zur Grundversorgung der Bevölkerung, wozu er ein Fahrzeug benötigt. Kurzerhand wird der Adler zum Lieferwagen umgerüstet. Der Milchhändler lässt das Verdeck sorgfältig demontieren und lagert es gut ein. Die hinteren, nicht ganz versenkbaren Seitenscheiben werden ausgebaut. Dann erstellt ein Wagner eine kleine, hölzerne Ladebrücke, welche über der Rücksitzbank über die hintere Fahrzeugkante hinausreicht und sich mit zwei Stangen auf der Stossstange abstützt. Ein kleines Dach für die zwei Frontsitze rundet den reversiblen Umbau ab. Dank der hoch liegenden Ladefläche und dem tiefen Wagenboden ohne Mitteltunnel lassen sich sogar da, wo die Rücksitzbank wäre, ganze Milchkannen via Beifahrertüre unter der Holzbrücke verstauen.
So steht der Adler bis zum Ende der Benzinrationierung um 1948 im täglichen Lieferdienst. Das Schicksal vieler Schweizer Vorkriegswagen, die den Krieg in einer Garage zwar unbeschadet überstanden haben, dann aber mit Standschäden trotzdem dem Schrott zugeführt werden, weil es nun neue, modernere und im Betrieb nicht teurere Autos gibt (wer kurz nach dem Krieg vermag ein Auto zu fahren, kann sich oft auch gleich ein neues leisten), bleibt dem Adler erspart.
Nach Ende der Rationierung wandern die restlichen Bezugsmarken, die Fahrerlaubnis und der alte Ausweis in die Mappe wo schon der Kaufvertrag und die Zollbescheinigung des Wagens lagern. Ausser einem neuen Verdeckstoff ist kein grosser Aufwand nötig um den Adler wieder in ein schmuckes Cabriolet zu verwandeln. Die Demontage der Brücke und das Wiederanbringen der Seitenscheiben und des Verdecks reichen. Noch darf der Wagen viele Sommer lang treu seinen Dienst als Familienauto tun. 1964 aber findet die zweite Frau des Milchhändlers, ihr Gatte sollte sich als angesehener Mann nun wirklich nicht mehr in einem derart alten Auto blicken lassen.
Der treue Adler wandert in die Garage und wird langsam von abgestellten Gegenständen umgeben. Dabei holt er sich die eine oder andere Beule in die ausladenden Kotflügel.
Der zweite Frühling
Zu Beginn der Neunzigerjahre beschliesst Herr Marthaler schliesslich, sein geliebtes Ferienhaus im Berner Oberland aufzugeben. Nun braucht er Platz um die überzähligen Möbel irgendwo unter zu bringen. Es wird klar, der Adler muss weg! 12′000 Franken hat er mal gekostet, 12′000 Franken soll er bringen, dann war’s ein gutes Geschäft, denkt sich der mittlerweile über Achtzigjährige. Und so geschieht es: Der Wagen geht an einen Autohändler. Dort steht das Fahrzeug einige Zeit verdreckt, unbeachtet und etwas hilflos unter einem offenen Carport bis ein junger, enthusiastischer Autofan es entdeckt. Gegen einen leidlich gut erhaltenen Triumph Spitfire und etwa 5000 Franken wird er der neue Besitzer des Adlers. Unbekümmertheit und ein knappes Budget sind ein Segen für den Wagen. Christopher Lüke, ein Architekt, lässt nur die Kotflügel instand stellen, gönnt dem Auto eine grosse Inspektion und fährt den mittlerweile über fünfzigjährigen Veteran bedenken- und problemlos im Alltag! Aufgrund des alten Fahrzeugausweises ist es für den Luzerner ein Einfaches, Marthaler als Erstbesitzer ausfindig zu machen. Kurz nach der frischen MFK Prüfung des Adlers (siehe hierzu ein Statement im Kasten) fährt der Architekt zum ehemaligen Milchhändler nach Bern Bümpliz. Laut dessen Gattin stand der alte Herr den ganzen Morgen an der Ecke um aufgeregt die Ankunft „seines“ Autos zu erwarten. Herr Marthaler erweist sich als ungemein wertvolle Quelle für den jungen Oldtimerbesitzer. Vieles des hier Wiedergegebenen entstammt diesem denkwürdigen Wiedertreffen des stolzen Erstbesitzers mit seinem geliebten Auto. Kaufvertrag, Handbuch, Kilometerbuch, Bestellschein, Rationierungskarten, Werkzeugsatz, Winterschutz für den Kühler, die ominöse Fettpresse, alles lagerte noch immer in Marthalers Garage und wechselt nun zum neuen Besitzer. Ein allerletztes Mal nimmt der fast Neunzigjährige nach 25 Jahren das Steuer nochmals in die Hand und Lüke ist mehr als verblüfft: Ein Griff zum mittlerweile abgegriffenen Fensterpfosten, das rechte Bein vorgestreckt, ein beherzter Schwung auf den Sitz, die Hand auf die Tür gelegt und diese zugeschlagen, ein Griff zum Zündschloss, ein Tritt auf das Startpedal im Fussraum und ab geht’s. Da ist keinerlei Unsicherheit, jeder Handgriff sitzt, Winkerschalter, Doppelkuppeln, genau die richtige Dosis Zwischengas, die Hand fällt immer an den richtigen Ort, alles geschieht wie aus dem Unterbewusstsein, tief eingebrannt. Lüke ist tief betroffen. Er hält den Kontakt mit Marthaler bis zu dessen Tod im Jahre 1994.
Der Wagen zeigt heute noch die Spuren seines ersten Besitzers, die blanke Stelle am Fensterpfosten oder auf der Türoberkante, die durchgescheuerte Kühlermaske vom vielen Polieren, die Schrammen auf dem Einstieg der Beifahrerseite von den Milchkannen, die Löcher für die Stütze der Hilfsladebrücke aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Verdeck ist immer noch das alte, wie der Lack oder die Polster, jeder Nagel der Carrosserie ist noch der, der bei Autenrieth damals in den Eschenholzrahmen geschlagen wurde. Natürlich zeigen sich die Spuren des Alters deutlich, die Sitze haben Risse und Löcher, ebenso die Seitenverkleidungen um die Türgriffe herum. Aber der Geist des alten Autos ist noch vorhanden. Der Wagen darf seine Aura behalten, die Spuren tragen und deren Geschichten von Sommerlichen Ausfahrten, harten Kriegszeiten und täglichem Einsatz im Dienste des Kunden erzählen. Herr Marthaler ist seit mehr als 10 Jahren tot. Sein Auto aber lebt weiter und repräsentiert nicht nur ein höchst wertvolles Stück Schweizer Zeitgeschichte sondern übermittelt uns auch eine ungemein wertvollere Individualgeschichte. Wunderbar!
Ein Veteran oder kein Veteran?
Der gesuchte Eintrag im Fahrzeugausweis, der „Veteranenstempel“ steht für voll restaurierte Fahrzeuge kaum je zur Diskussion. Alles ist neu, glänzt und sieht aus „wie aus dem Truckli“. Der Prüfer hat Freude, der Besitzer sowieso und die Welt ist in Ordnung. Was geschieht aber, wenn ein Besitzer sich die Spuren der Zeit erhalten will? Wenn ein Auto seine 30, 50 oder gar 70 Jahre nicht verbirgt? Die Antwort: schwierig! Unser Adler hier gilt nicht als Veteran. Der neue Besitzer hat sich geweigert, den technisch einwandfreien und über 60 Jahre akribisch gepflegten Wagen zu restaurieren. Der Verdeckstoff hat Stockflecken, die Kühlermaske ist abgewetzt, ebenso die Türkanten oder der linke Dachpfosten. Aber der Wagen erzählt was er alles erlebt hat und stellt in seiner Gesamtheit eine absolute Rarität dar. Die meisten Vorkriegswagen sind heute restauriert und ihre Geschichte verliert sich im Dunkel der Vergangenheit, Spuren des Gebrauchs lassen sich nicht mehr direkt früheren Besitzern zuordnen oder sind gar ganz verwischt worden. Der Adler aber vereint erzählte Geschichte, erhaltene Dokumente, allgemeine Zeitgeschichte und schliesslich das Objekt an sich als Zeitzeuge auf fast wundersame Weise. Leider ist es der MFK als kontrollierende Behörde nicht möglich, all diese Aspekte zu berücksichtigen. Vordergründig leuchtet dies auch ein: Primärer Zweck einer Fahrzeugprüfung ist die Kontrolle der Betriebssicherheit des Fahrzeuges und dessen Konformität mit den Vorschriften. Nun aber sollen Techniker, ehemalige Automechaniker oder generell technisch gebildete Fachleute mit einem sehr funktionsorientierten Zugang zu der Materie die historische Relevanz eines Fahrzeuges beurteilen, das kann eigentlich nicht reibungslos geschehen. Wir Oldtimerbesitzer reklamieren in jüngerer Zeit immer öfter, Hüter des automobilen, technischen Kulturgutes des Landes zu sein und fordern dafür gewisse Privilegien welche wir mittlerweile dank dem Veteranenstatus auch geniessen können. Die Anerkennung unseres Tuns holen wir uns mit der Verleihung eben dieses Veteranenstempels der MFK, im selteneren Fall an einem Treffen in Form einer Prämierung, neuerdings auch mit einer Bescheinigung durch die FIVA. Die provozierende Frage aber lautet: Sind es die richtigen Kriterien, nach denen wir unsere Schätze auszeichnen lassen? Stellen unsere Autos nur ein Baustein in der Geschichte des Automobils dar und begnügen wir uns mit der Reproduktion dieser bekannten Geschichte in Form eines weiteren auf den Neuzustand restaurierten Autos, oder aber verstehen wir das alte Auto als Zeitzeuge, dessen Individualgeschichte ein kleiner, hochinteressanter Baustein eines viel grösseren Bildes der Vergangenheit ist? Falls ja, sollten wir uns weitere Fachleute zum Freund machen, Historiker, Restauratoren im musealen Sinne, Zeitkenner und Spezialisten welche sich mit allen Aspekten der Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzen. Diese Leute könnten uns helfen, in Zusammenarbeit mit den kantonalen Strassenverkehrsämtern einen Leitfaden zu erstellen, welcher mehr enthält als die oberflächliche Beurteilung eines alten Autos nach Zustand 1-5 und dessen Konformität mit dem Ursprungszustand. Das Zusammengehen mit Museen und Hütern stehender Sammlungen fällt uns allerdings manchmal schwer, das „Erfahren“ unserer geliebten Autos ist uns oft ein Hauptanliegen. Aber nur ein umfassendes Verständnis der Relevanz unserer alten Schätze wird dafür sorgen, dass uns durch zukünftige Generationen Redlichkeit und verantwortungsbewusstes Umgehen mit unserem Erbe der Verkehrsgeschichte attestiert wird.
NACHTRAG: Dieser Text ist ca 2005 entstanden. Inzwischen regelt die Charta von Turin der FIVA einiges zu den oben von mir damals angesprochenen Ideen, Bemerkungen und Sachverhalten. Das Dokument als pdf hier: FIVA Charta von Turin